Barockzitat und Tangoschritt
von SUSANNE ECKSTEIN
REUTLINGEN. Ihren hohen Anspruch hielt die Junge Sinfonie auch in diesem Sommerkonzert aufrecht – mit Johanna Bohnen als Solistin und Rainer M. Schmid am Pult.
Einfach so aus dem Handgelenk geschüttelt werden die wenigsten Musikwerke. Die Junge Sinfonie stellte das aktuelle Programm mit Werken von Nikolai Rimsky-Korsakow, Astor Piazzolla und Luciano Berio bewusst unter das Motto „Umarbeiten-Arrangieren-Restaurieren“.
Gleich mehrfach umgearbeitet hat Rimsky-Korsakow seine Tondichtung „Sadko“, zuletzt gar als Oper. Auf den Notenpulten lag vermutlich die dritte (definitive) Orchesterfassung von 1892, sorgfältig umgesetzt von den Musiker(innen) unter Schmids stets klarem Dirigat. Eher behutsam steigerten sie das Wogen und Fließen der See sowie die Tanzmelodie des Guslispielers Sadko zum Sturm, dem dieser Einhalt gebietet, indem er die Saiten zerreißt. Sanfte Harmonie beschloss das farbige Seestück.
Die „Vier Jahreszeiten“ waren dieses Mal nicht von Vivaldi, sondern von Astor Piazzolla: eine Hommage an den Barockmeister und dazu eins von zahlreichen Arrangements, in diesem Fall für Solovioline und Orchester. Piazzollas Tango-Nuevo-Stil fordert Schärfe, Präzision und Leidenschaft; die Junge Sinfonie hielt sich jedoch mehr auf der „klassisch“ kultivierten Seite, stilistisch eins mit der ehemaligen Junge-Sinfonie-Geigerin Johanna Bohnen, die seit einigen Jahren im Bruckner-Orchester Linz die zweiten Geigen führt und hier den Solo-Part übernahm. Detailgenau ausgearbeitet, rein im Ton und technisch sicher meisterte sie vertrackte Rhythmen, Sprünge, Doppelgriffe und den raffinierten Wechsel zwischen Barock-Zitat und Tango-Schritt, sorgsam assistiert vom Orchester. Wo andere rau reißen, wurde hier eher behutsam gefeilt.
Der detailgenau die Partitur auslotende Zugriff passte besser zum dritten und gewichtigsten Stück des Abends: „Rendering“ (Wiedergabe, Ehrerbietung) von Luciano Berio, komponiert aufgrund der Orchesterfragmente D 936A von Franz Schubert, deren Kopien Berio vielleicht auf dem Schreibtisch seiner Frau vorfand, während diese als externe Mit-Herausgeberin der Neuen Schubert-Ausgabe daran arbeitete: im Klaviernotat festgehaltene Entwürfe zu (vermutlich) drei Sätzen.
Berio instrumentierte sie und ergänzte die mutmaßlichen Lücken nach Art der Fresko-Restaurierung, indem er sie mit selbst komponierten Retuschen füllte, einem faszinierenden Gespinst aus Flächen, Floskeln und Schubert-Schnipseln, das mit dem silbrigen Klang der Celesta und der sensiblen Tongebung der Jungen Sinfonie einen eigenartigen Zauber entfaltete.
Das Orchester widmete sich dem schwierigen Werk mit viel Feinsinn und Hingabe. Die (beinahe) originalen Schubert-Passagen erhielten das richtige Maß von Gefühl und Ausdruckskraft; himmlisch schön die Soli von Oboe und Fagott, die die Hörenden sanft in einen Zauber bannten, der einem quasi einen Blick in die verlorene Zukunft von Schuberts Musik erlaubte, sensibilisiert durch die als sanfte Verwirrung eingeschobenen Retuschen Berios, die vom Orchester in allen Details und farbigen Schichtungen transparent gemacht wurden.
Da für einen Finalsatz bislang kein Material gefunden wurde und Berio nur die überlieferten drei Sätze bearbeitet hat, ging „Rendering“ mit dem sich auflösenden Scherzo-Teil zu Ende. Eine gute Idee, als Zugabe und Ersatz-Finale einen furiosen Abschnitt aus dem 1. Satz zu wiederholen – zur Freude des lang und lebhaft applaudierenden Publikums.
von SUSANNE ECKSTEIN, SWP, 08.07.2014