Südwest Presse, 03.07.2012

Meisterwerke neu erschlossen
Junge Sinfonie spielt in der Listhalle auf

Reutlingen. Gleich zwei große Meisterwerke und eine glänzende junge Pianistin bot das Sommerkonzert der Jungen Sinfonie Reutlingen in der Listhalle.

Es ist immer wieder erstaunlich, wie dieses Jugendorchester es schafft, Musik quasi neu zu erschließen – umso mehr, wenn man Einblick in die Umstände bekommt, unter denen es arbeitet. Dass das Probelokal nicht zuverlässig verfügbar ist und das Orchester deshalb öfter – unter erhöhten Kosten – ausweichen muss, ist eine Zumutung. Hinzu kommen bald noch Mehrkosten für die Nutzung der neuen Stadthalle, denn die Listhalle steht nur noch begrenzte Zeit zur Verfügung. Und die Musikfreunde sahen sich gezwungen, die Fördergelder zu kürzen.

Trotz allem finden Rainer M. Schmid und die Seinen stets neuen Stoff zum Erarbeiten. Diesmal etwa von Hans Gál, einem in der Nazizeit emigrierten Komponisten, dessen "Burleske" aus der 1933 entstandenen Oper "Die beiden Klaas" den Auftakt bildete. Bei diesem skurrilen, ja widerspenstigen Stück spürte man eine gewisse Unsicherheit. Vermutlich wäre mehr Vertrautheit vonnöten gewesen, um diesem Stück die richtige Schärfe zu geben.

Auch im Orchesterpart des Beethoven-Klavierkonzerts Nr. 4 fielen Ungenauigkeiten auf. Dafür überzeugte Nathalie Glinka, die schon im Vorjahr mit der Jungen Sinfonie aufgetreten ist, mit einer pianistisch brillanten und sich organisch entwickelnden Interpretation des Konzerts, das einen Wendepunkt der Gattung markiert.

Unberührt von minimalen Abweichungen vom Wege, die wohl durch Störfaktoren im Publikum ausgelöst waren, trat sie mit dem Orchester ins Gespräch: in eine harmonische Zwiesprache im ersten Satz, aus der sie in der Solokadenz klangvoll und energisch hervortrat, im zweiten Satz in einen durch deutliche Kontraste herausgestellten Dissens, der sich durch die unendlich sanfte Überzeugungsarbeit des Soloklaviers zum Konsens wandelte – ein faszinierendes Geschehen, von Beethoven so notiert, von der Jungen Sinfonie unter Rainer M. Schmids kundiger Leitung hörbar gemacht. Danach erschien der spielfreudige Finalsatz fast harmlos.

Über wie viel Können Nathalie Glinka mittlerweile verfügt, zeigte sich in der heftig erklatschten Zugabe: Aus einer schlichten Scarlatti-Sonate machte die Guthörle-Stipendiatin ein Kabinettstück subtiler, feinsinniger Musikalität.

Mit Tschaikowskys "Pathétique" hatte das Orchester ein weiteres Meisterwerk einstudiert. Auch hier ließ die Präzision bei Einsätzen und im Zusammenspiel manchmal zu wünschen übrig, doch dafür wurde geradezu radikal die psychologische Tiefenstruktur offen gelegt.

Da deutete etwa die Solo-Klarinette ein Geheimnis an, brutal brach der Tutti-Gegenschlag ein und wurde gewalttätig ausmusiziert. Systematisch gegen den Takt tanzte der zweite Satz, und nachdem Tschaikowskys vielfach fragmentierte Anläufe zu einer Art Triumphmarsch im Finalsatz endlich – leidenschaftlich übersteigert – zum Ziel gelangten, mussten Musizierende und Hörende erst einmal Luft holen.

Unter atemberaubender Spannung, die auch die Pausen erfasste, versank dann der als Abgesang ausmusizierte Finalsatz im Nichts, genauer: im Summen der Saalbeleuchtung. Zögernd setzte Beifall ein und steigerte sich zu frenetischem Jubel. Keine Zugabe.

von SUSANNE ECKSTEIN, SWP, 03.07.2012