Reutlinger Generalanzeiger, 28.10.2015

Blühende, glühende Orchesterlandschaft

REUTLINGEN. Die Junge Sinfonie Reutlingen nimmt im Kulturleben der Stadt einen besonderen Platz ein: Die jungen Musiker bringen schon in immer jüngerem Alter ein beachtliches instrumentales Können mit, streben oft erfolgreich eine Laufbahn als Musiker an und sind in hohem Maße begeisterungsfähig. Ihr langjähriger Leiter Rainer M. Schmid kann somit sowohl auf traditionelle Orchesterliteratur für Profis zurückgreifen als auch originelle Werke aus Nischen riskieren.
Beim diesjährigen Herbstkonzert, dem zwei intensive Probenwochen vorausgingen, standen unter dem Titel »Romantische Klangwelten« die Komponisten Mendelssohn und Brahms für die Tradition, Wolf-Ferrari und Klengel für gewagtere Fundstücke.

Mediterrane Farben

Es geschieht sicher selten, dass vom ersten Augenblick an die Erwartung der Zuhörer und der Mitteilungswunsch des Orchesters zu einer solchen Übereinstimmung zusammenkommen wie gleich eingangs in Mendelssohns Spätwerk, der Konzertouvertüre Nr. 4 »Die schöne Melusine«. Das Orchester führte die Zuhörer mit dem Klang gewordenen Märchen vom Schicksal der schönen Meerjungfrau in eine entrückte Zauberwelt.

Transparente mediterrane Farben leuchteten in Wolf-Ferraris Idillio-Concertino für Oboe und Streicher auf. Der deutsch-italienische Komponist verband hier eine viersätzig barocke Suite auf dem Hintergrund des Stils von Vivaldi mit entfernten Anklängen an seine Kollegen des 20. Jahrhunderts.

Das Orchester war auf Anhieb in Balance zwischen leichter Eleganz und keckem rhythmischen Jonglieren. Solist Marius Schifferdecker entzündete mit den begleitenden Streichern bis ins zarteste Pianissimo raumfüllende Intensität und traumhafte Spielfreude, die den Eindruck hinterließ: Hier stimmt auf einmal wirklich alles. In der anschließenden Pause klangen denn auch dieses Stück und seine Interpreten in Gesprächen verschiedentlich nach.

Ohne Dirigent, nur auf sich selbst gestellt, spielten die Cellisten des Orchesters darauf den »Hymnus für 12 Celli« von Julius Klengel, das bekannteste Stück dieses ziemlich unbekannten Komponisten, der als Cellovirtuose am ehesten noch Cellisten ein Begriff sein dürfte. Man konnte bei der äußerst konzentriert vorgetragenen, heiklen Komposition an einen Insektenschwarm denken, der manchmal brummte, sich immer wieder auflöste und neu zusammenfand, um schließlich auf zahlreichen bunten Blüten zu verweilen.

Mächtige Eruptionen

Auf hohem Niveau bewegte man sich darauf weiter in Brahms’ monumentaler 1. Sinfonie. Das viersätzige, fast einstündige Opus, lässt sich als kollektives Orchestergespräch verstehen, wie es Goethe einmal für das Streichquartett ausdrückte: »Man hört vier vernünftige Leute sich unterhalten, glaubt ihren Diskursen etwas abzugewinnen und die Eigentümlichkeiten der Instrumente kennenzulernen.« In klassischer Weise werden hier Ideen geboren, in unterschiedlichsten Orchesterfarbkombinationen wieder aufgegriffen, beantwortet und in verschiedenen Stimmungen variiert, mit Generalpausen geschwiegen, Steigerungen aufgebaut, als Dialog oder Gruppengespräch weitergeführt, rhythmisch gegeneinander versetzt und in dramatische Phrasen ausgeführt, die das Orchester wie ein Erdbeben erschüttern: Klangmalerei einer blühenden, ja glühenden Orchesterlandschaft.

Der Kontakt und die Chemie zwischen Dirigent und Orchester zeigte sich im unmittelbaren Verstehen und Umsetzen von Schmids Impulsen in Dynamik, Tempo, Agogik, im Auf- und Absteigen längerer Spannungsbögen, in leise zurückhaltenden Episoden ebenso wie in kraftvoll mächtigen Eruptionen. Ohne Umschweife erschloss er Orchester und Publikum dieses Werk und genau so konnte man es einfach verstehen. Die gründliche Auseinandersetzung mit diesem Meisterwerk wurde damit für alle zum Erlebnis, das die Mühe wert war. Erst als der letzte Satz verklungen war, kam man innerlich allmählich zur Ruhe.

Als symbolische Geste reichten der Dirigent und der Solist ihren Blumenstrauß an die Konzertmeisterin und Stimmführerin weiter. Das Publikum dankte den Ausführenden anhaltend mit herzlichem Beifall. (hjn)