Viele Arien sind richtige Ohrwürmer
METZINGEN/PFULLINGEN. Versprochen ist ein etwa dreistündiges Klangerlebnis aus zwei Chören, zwei Orchestern und sechs Profi-Solisten. Insgesamt werden sich rund 180 Sänger und Musiker um den Altar gruppieren. Die Martinskantoreien von Pfullingen und Metzingen führen die selten zu hörende Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach auf: in Metzingen am Sonntag, 1. April, um 18 Uhr, in Pfullingen an Karfreitag, 6. April, um 17 Uhr, jeweils in der Kirche. Den Orchesterpart übernimmt die Junge Sinfonie Reutlingen, die Solisten kommen aus dem Stuttgarter Raum, an der Orgel und am Dirigierstab wechseln sich die Kantoren Dorothee Ludwig (Pfullingen) und Stephen Blaich (Metzingen) ab. Jeder dirigiert in seiner Kirche.
Fast 50 Jahre ist es her, dass Bachs umfangreichste Komposition in Metzingen zu hören war. Etwa zehn Sängerinnen der Metzinger Kantorei haben damals als Jugendliche das Werk schon einmal einstudiert, hat Stephen Blaich recherchiert. In Pfullingen wurde es von Dorothee Ludwigs Vorgänger, Professor Erich Reustlen, vor vielen Jahren aufgeführt. Die beiden Kantoreien pflegen den Kontakt schon lang. Deshalb die Idee der zwei jungen Kirchenmusiker, mit ihren Chören dieses Riesenwerk einzustudieren, das für einen allein schon aus organisatorisch-finanziellen Gründen nicht zu schaffen wäre.
Die Bach-Passion hat das gesamte Formenrepertoire der geistlichen und weltlichen Musik des Spätbarock zu bieten: Rezitative, verschiedene Arientypen, Choräle, Chöre. Teilweise wie im Dialog springt der Gesang zwischen den Chören hin und her.
Körperlicher Kraftakt
»Es ist schwierig, sich bei diesem Werk den Überblick zu verschaffen. Auch für uns«, so Dorothee Ludwig und Stephen Blaich. Das Dirigieren bedeutet selbst für sie einen körperlichen Kraftakt. »Gefühlte zehn Stunden«, sagt Blaich lachend. Und die Kantoren sagen sogar, dass es schwer fällt, so lang die Konzentration zu halten.
Ein kompliziertes Stück für Sänger und Musiker gleichermaßen. Und obwohl selten zu hören – »sind viele Arien als Ohrwürmer geläufig« sagt Blaich, der von einem niederländischen Musiker soeben erfahren hat, dass die Matthäus-Passion in dessen Land einen ähnlichen Stellenwert hat wie das Weihnachtsoratorium hier. Seit dem 5. Jahrhundert werden bestimmte Evangelien einzelnen Tagen zugeordnet, so das Matthäus-Evangelium dem Palmsonntag. An diesem Tag findet die Metzinger Aufführung statt.
Arbeit eines Dreivierteljahres
Rund ein Dreivierteljahr arbeiten die Sänger bereits an dem Werk. Was lange als Stückwerk geprobt wird, sei dann sehr spannend, wenn es erstmals zusammengesetzt wird. 68 Sätze zählt die neue Bach-Ausgabe. Früher waren es gar noch mehr, als zusammenhängende Stücke einzeln gezählt wurden.
»Wir denken an nichts anderes mehr«, berichten die beiden und wissen, dass viele ihrer Chormitglieder täglich Teile der CD anhören. »Werben mussten wir für dieses Vorhaben jedenfalls nicht. Die Bereitschaft dafür zu leiden ist groß.« Wird es doch für viele das erste und einzige Mal sein, dass sie diese Passion singen. Außerdem harmonieren die Chöre nicht nur musikalisch, sondern auch menschlich. Konkurrenzdenken jedenfalls kam nicht auf. Die Tempi nehmen Dorothee Ludwig und Stephen Blaich schneller als Helmut Rilling etwa vor etwas über zwanzig Jahren. »Klangbäder sind nicht mehr meine Aufführungspraxis«, sagt Blaich. Man orientiere sich wieder stärker an der barocken Spielweise, die höher und heller erklinge. »Wir sind klarer in der Textgestaltung und gehen flexibler mit den Tempi um, als das vor einigen Jahren noch üblich war.« Mitunter versprühe der Chor eine geradezu aggressive Wirkung.
Eigendynamik entwickelt
Nachdem die Töne saßen, habe der Chor eine Eigendynamik entwickelt, begeistern sich die Kantorin und ihr Kollege. Sie selbst genießen das Werk aus diversen Perspektiven: mal als unterstützendes Chormitglied bei den Proben, dann als Organisten und schließlich als Dirigenten.