Südwestpresse, 27.10.2015

Jugendfrische Spätromantik

VON SUSANNE ECKSTEIN

"Romantische Klangwelten" versprach die Junge Sinfonie Reutlingen in ihrem Herbstkonzert. Als Solist trat der Oboist Marius Schifferdecker auf.

Mit dieser Leistung hätte die Junge Sinfonie unter Rainer M. Schmids Leitung mehr Publikum verdient. Es kamen zwar viele, aber der Große Saal der Stadthalle wurde (wieder) nicht voll. Was tun? Massiv plakatieren, Sensationelles ankündigen? Dabei ist ihr Können bemerkenswert, vor allem angesichts der ständigen Fluktuation, der das Orchester unterworfen ist.

Die Romantik lebt – jedenfalls die musikalische. Mit Felix Mendelssohn Bartholdys Ouvertüre Nr. 4 "Die schöne Melusine" hatte die Junge Sinfonie eine typische Vertreterin an den Anfang gestellt. Das Orchester schien Frische und Schwung direkt vom jungen Mendelssohn zu beziehen, der 1834 der Kreutzer'schen Ouvertüre eine eigene entgegengesetzt hatte.

Dem Frühromantiker folgte ein Nachromantiker: Ermanno Wolf-Ferrari mit seinem "Idillio" für Oboe, Streicher und zwei Hörner aus dem Jahr 1933. Den Solopart übernahm Marius Schifferdecker, langjähriges Junge-Sinfonie-Mitglied und seit Kurzem stellvertretender Solo-Oboist im Pfalzorchester Kaiserslautern. Sein Spiel bestach durch Leichtigkeit, biegsamen, kultivierten Ton und nahtloses Zusammenspiel mit dem Ensemble. Wolf-Ferraris "Idyll" wurde als so zauberhaft wie zerbrechlich dargestellt; ein launiges Rondo beschloss das eigenwillig unzeitgemäße Stück.

Vor der Pause trat die derzeit groß besetzte Cellisten-Fraktion allein auf die Bühne: Sie hatte den "Hymnus für 12 Cellisten" von Julius Klengel einstudiert, ein spätromantisches Stück mit aparten Klangschichtungen, sehnsuchtsvollen Kantilenen und farbiger Harmonik in Quartett-, Quintett- und voller Besetzung. Es gelang sicher und präzis; allerdings war aus dem allzu verhaltenen Spiel der wechselnden Stimmführer zu schließen, dass sie sich noch mit der Solisten-Rolle anfreunden müssen.

Spätromantik kann anstrengend sein – etwa Johannes Brahms' 1. Sinfonie. Er arbeitete 14 Jahre daran; sie dauert 45 Minuten und wirkt etwas überfrachtet. Die großen Orchester spielen sie meist behäbiger als nötig, schon die einleitenden Paukenschläge hemmen den Fluss. Ganz anders die Junge Sinfonie: "Ihr" Brahms ist jugendfrisch und lebhaft bewegt, und dies nicht erst im lichten Finale, sondern vom düsteren Anfang an. Schmid und die Seinen richten den Blick nach vorn, die Pauken treiben die Bewegung voran. Man kann in der klaren Akustik und dem engagierten, durchsichtigen Spiel Brahms' Versuch nachvollziehen, eigene sinfonische Wege zu gehen. Erster und zweiter Satz werden deutlich kontrastiert: kraftvoll der eine, zärtlich der andere, geschmückt mit makellosen Soli. Das Ganze besticht durch tänzerische Bewegung und die Präzision, mit der Brahms' motivische Arbeit nachgezeichnet wird. Auch wenn die Hörner mal das Tempo verfehlen und einzelne Töne wackeln, beeindrucken beim Orchester das tadellose Zusammenspiel, die Balance, der sangliche Ton und die perfekt intonierten Schlussharmonien mit den Flöten-Spitzen.

Dies gilt auch für den Finalsatz. Er fordert alle Kräfte mit seiner Fülle der Ideen und Bezüge, dem Alphornruf und dem an Beethovens Neunte anknüpfenden großen Hymnus, der mehrfach wiederkehrt. Lässt die Spannung nach? Nein, das Orchester und sein Chef bündeln erneut ihre Energien für eine letzte intensive Steigerung und einen so furiosen wie monumentalen Schluss. Trotz anhaltenden Beifalls: keine Zugabe nach diesem Kraftakt.