Junge Sinfonie gegen Lüge und Barbarei
Susanne Eckstein | 28.06.2017
„Es ist an der Zeit“, mahnte das Sommerkonzert-Motto der Jungen Sinfonie Reutlingen. Als Gäste wirkten der junge Chor „Lacuna“ vom Sängerbund Lichtenstein und Sebastian Fuß als Solopianist mit; die Leitung hatte Rainer M. Schmid.
Mit ihrem aktuellen Programm haben sich die Junge Sinfonie und ihr Leiter Rainer M. Schmid weit aus dem sinfonischen Fenster gelehnt. Ihr Anliegen: aufmerksam zu machen auf ein unrühmliches Jubiläum (101 Jahre 1. Weltkrieg) und die gefährdete Lage der Menschheit.
Zum einen mit einer Neufassung des 76er-Protestsongs „Es ist an der Zeit“, ursprünglich englisch („The Green Fields of France“), hierzulande bekannt durch Hannes Wader und dessen Text, nun eigens für die Junge Sinfonie arrangiert von Pavel Klimashevsky. Von diesem stammt auch das Jazz-inspirierte „Decemberdy“ – ebenfalls für die Junge Sinfonie komponiert –, das quasi als Prolog vorangestellt wurde. Für das stets verjüngte Orchester bildete es eine Herausforderung, äußerst konzentriert folgte es Schmids präzisem Dirigat und dem Notentext.
Singen ist Tradition bei der Jungen Sinfonie – man denke nur an die Dreingaben; für vollen Chorklang reichen die Stimmen aber nicht. Gut, wenn man entsprechende Kontakte nutzen kann: Maria Eiche, Stimmführerin der 2. Geigen und NWO-Dirigentin, leitet nebenher das Vokalensemble „Lacuna“ im Sängerbund Lichtenstein. Dieses übernahm nun den Chorpart von „Es ist an der Zeit“. Es wurde tadellos gesungen und musiziert; auch Orchesterleute sangen mit. Der Komponist hat die Instrumente behutsam eingesetzt, so dass Lied und Anklage im Vordergrund blieben. Mancher Alt-68er mochte den rebellischen Unterton vermissen; vielleicht hätte dem Inhalt ein Textabdruck mehr Kraft verliehen? „Fällt die Menschheit noch einmal auf Lügen herein / dann kann es gescheh‘n, daß bald niemand mehr lebt“ – wie beklemmend aktuell!
Als positives Gegenstück konnte man George Gershwins „Rhapsody in Blue“ verstehen, den populären Ohrwurm-Mix aus Jazz, Klassik und Klezmer, Musik eines Emigrierten, nicht resignativ, sondern aktiv vorwärtstreibend. Zumal in der Interpretation von Sebastian Fuß, langjähriger Schüler von Angela-Charlott-Linckelmann und Guthörle-Stipendiat: Mit sensiblem Anschlag und farbiger Tongebung, vor allem aber mit einer gehörigen Portion Spielwitz lockte er das Orchester aus der Reserve und verführte das Publikum zum Mitwippen und Schwelgen. Letzteres spendete begeistert Applaus, Fuß bedankte sich mit einer Solozugabe.
Ein herbes Bekenntniswerk von 1946 beschloss das Programm: die Sinfonie Nr. 3 (die „liturgische“) von Arthur Honegger. Darin hat er das damals noch frische Kriegserlebnis in drei Sätze gefasst, mit brutalen Ostinati in den Ecksätzen, einem vielstimmigen, vielschichtigen Gebet in der Mitte und einem kleinen Hoffnungsschimmer zum Schluss. Zwar gehört das Stück zum Repertoire der Jungen Sinfonie, für viele Mitspieler jedoch dürfte es neu gewesen sein; eine Gratwanderung nicht nur mit Blick auf die komplexe Partitur, sondern auch auf die Spannung von Kultur und Barbarei: Wie bekämpft man Gewalt mit den Mitteln eines Kulturorchesters? Die Grenzen des kultivierten Orchesterspiels wurden weder vom Komponisten noch von der Jungen Sinfonie überschritten; letzterer konnte man sogar mehr Mut zur Dissonanz wünschen, um diese unbequeme Musik – über die korrekte Wiedergabe hinaus – in Struktur und Aussage zu schärfen. Dennoch: große Anerkennung, lang anhaltender Beifall.