Zu jedem Wagnis bereit
REUTLINGEN. Seit 28 Jahren leitet Rainer Schmid die Junge Sinfonie, und er hat seine Schützlinge dabei an Werke herangeführt, die in anderen Amateurorchestern den kalten Angstschweiß ausbrechen ließen. Beim Jubiläumskonzert zu 60 Jahren Junge Sinfonie am Sonntagabend in der Listhalle hätte die Stunde geschlagen, sich für diese Leistung einmal so richtig feiern zu lassen – wäre Schmid für sowas der Typ. Ist er nicht. Sich selbst statt seiner Nachwuchstalente in den Vordergrund zu stellen, ist überhaupt nicht seine Art. Konzentrierter Bogenstrich: Die Junge Sinfonie in der Listhalle (großes Bild). Oberbürgermeisterin Barbara Bosch überreicht Dirigent Rainer Schmid die Verdienstmedaille der Stadt Reutlingen.
Konzentrierter Bogenstrich: Die Junge Sinfonie in der Listhalle (großes Bild). Oberbürgermeisterin Barbara Bosch überreicht Dirigent Rainer Schmid die Verdienstmedaille der Stadt Reutlingen.
Und so stand Schmid am Sonntagabend bescheiden, wenn nicht gar etwas verlegen am Bühnenrand, als die Lobesworte auf ihn niederprasselten. Erst lobte ihn der Vorsitzende der Gesellschaft der Musikfreunde (GdM), Hartmut Ebke, als die Seele des Orchesters – und vergaß nicht, ihm einen gut gefüllten Umschlag von der GdM und noch einen von der Christel-Guthörle-Stiftung mitzugeben. Dann ging Oberbürgermeisterin Barbara Bosch noch weiter ins Detail.
Hohe Ehrung von der Stadt
Bosch analysierte bei Schmid eine famose Mischung aus Autorität und freundschaftlichem Umgang, Begeisterung und Kompetenz – und holte ihn kurz entschlossen mitten auf die Bühne, um ihm dort die Verdienstmedaille der Stadt Reutlingen zu überreichen. Schmid, solchermaßen ins Rampenlicht gerückt, wirkte immer noch nicht so, als würde ihn der Rummel um seine Person richtig glücklich machen. Statt das Wort an die begeistert Applaudierenden in der gut besuchten Listhalle zu richten, ließ er lieber die Musik sprechen.
Und die hatte es mal wieder in sich. Erst Charles Koechlins hauchfeine Klangschleier, dann Alban Bergs zwölftönig im Existenziellen bohrendes Violinkonzert, am Ende Schumanns »Rheinische« mit ihrer motivischen Raffinesse – musikalisch gab's keine Bescheidenheit.
Dass es in der stocknüchternen Listhalle mit luftig-zarten Klangeweben à la Koechlin böse enden kann – was soll's: No risk no fun! Der erste Satz aus Koechlins impressionistisch angehauchten »Persischen Stunden« zerfiel denn auch in der trockenen Akustik gnadenlos in seine Einzelteile. Die im Titel versprochene »Mittagsruhe vor dem Aufbruch« wollte nicht recht Gestalt gewinnen.
Aber vom zweiten Satz an hatten sich die Musiker besser auf das ätherische Flirren der Stücke eingestellt. Wie betörende Traumbilder zogen »Die Karawane«, der »Abendgesang«, »Mondschein über den Terrassen« und »Morgendämmerung« vorüber, umwölkt von narkotisierenden Holzbläser-Aromen. Dennoch: Erst in den emotionalen Tiefenschichten von Alban Bergs Violinkonzert schienen die jungen Musiker sich wirklich heimisch zu fühlen. Hier wurde ihr Spiel eins mit dem Werk. Tiefgründig und von innen heraus leuchtend die Streicher, auch die Bläser gewannen dem zwischen Melancholie und Leidenschaft schwankenden Ton feine Schattierungen ab.
Fabelhaft spielende Julia Galic
Die Krönung des Ganzen aber war Solistin Julia Galic. Von den ersten Tönen an lud die Tübinger Geigerin ihr Spiel mit Intensität auf. Die raschen Stimmungswechsel, die immer ins Schmerzliche spielende Heiterkeit – alles kam bei ihr mit einer Mischung aus Energie und Natürlichkeit. Sie konnte forsch und kratzbürstig sein und im nächsten Moment in eine stille Nachdenklichkeit fallen. Alban Berg hat hier ja das Lebensbild eines Mädchens – der jung verstorbenen Manon Gropius – gezeichnet; und mitreißend wechseln bei Galic Lebensgier und Todesahnung ab, bis hin zur Verklärung am Ende, wenn die Klarinetten ergreifend ihren Bachchoral anstimmen.
Für Schumanns »Rheinische Sinfonie« füllte sich die Bühne zusätzlich mit einem ganzen Schwung Ehemaliger. Zum Ergebnis kann man nur sagen: Hut ab! Spritzig, formbewusst und mit einem famosen Gefühl für das heitere Dahinschwingen packten die jungen Musiker die fünf Sätze an.
Besonderes Lob verdienten sich die Hornisten, die bis in die Grenzregionen der hohen Register hinein mit Mut zum vollen, sanglichen Ton bliesen. Das Publikum wollte am Ende gar nicht mehr aufhören zu klatschen, sodass Schmid nichts anderes übrigblieb, als nachzulegen. Und einmal mehr – typisch Schmid! – war es eben nicht der leichte, heitere Satz, den man als Zugabe erwartet hätte, sondern der archaisch-fugenstrenge vierte. Ernst, sakral, feierlich: ein würdiger Ausklang. (GEA)